Freitag, 12. Juli 2019

Gemeinschaft der Generationen braucht Räume



Seit Beginn des Jahres wird in der Rolle das gemeinschaftliche Wohnen über Generationen hinweg erprobt. Initiator des Projekts sind die ProPotsdam GmbH und die Fachhochschule Potsdam mit dem Team um Dr. Stefan Thomas, Professor für Empirische Sozialforschung und Soziale Arbeit. Bernd Schröder sprach mit ihm über die Möglichkeiten, gemeinschaftlich und generationsübergreifend in einem Mietshaus zu wohnen.

Bernd Schröder: Herr Dr. Thomas, Sie sind Professor für Empirische Sozialforschung und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Potsdam und befassen sich unter anderem mit der Erfassung sozialer Sachverhalte. Das klingt sehr theoretisch. Was kann man sich darunter vorstellen?

Dr. Stefan Thomas: An der Fachhochschule Potsdam bieten wir Studiengänge in den angewandten Wissenschaften an. Das heißt, es gibt im Studium immer einen konkreten Bezug zur Praxis, ganz unabhängig vom Studienfach. Ob es nun Architektur ist, Design oder, wie in meinem Fall, Soziale Arbeit. Das ist nicht vergleichbar mit Psychologie, Politologie oder Sozialwissenschaften an einer Universität.

Im Rahmen des Studiengangs Soziale Arbeit an der FH steht das Alltagsleben im Mittelpunkt und die Probleme, die Menschen bewältigen müssen. In meiner Arbeitsgruppe betreiben wir speziell angewandte, partizipative Forschung, indem wir in die Welt rausgehen und dort alltägliche Herausforderungen und Probleme von Menschen betrachten. Partizipative Forschung, oder anders gesagt Bürgerwissenschaften, bedeutet, wir überlegen gemeinsam mit den Menschen, welche Fragestellungen mit welchen Forschungsmethoden untersucht werden sollen. Dabei möchte ich vor allem eins machen: Entwicklungsräume öffnen, um gemeinsam über das Gegebene hinaus neue Möglichkeiten zu entwickeln.

Eines Ihrer Forschungsprojekte wird in der Gartenstadt Drewitz gemeinsam mit der ProPotsdam durchgeführt. Öffnen Sie auch hier Entwicklungsräume?

Ja, das tue aber nicht nur ich, sondern ein ganzes Team, neben mir bestehend aus Dr. David Scheller, Dr. Tanja Ehmann und Susan Schröder. In Drewitz haben wir gefragt, wie man als normaler Mieter in einem „Plattenbau“ gemeinschaftlich und generationsübergreifend wohnen kann.

An der Fachhochschule oder im Drewitzer Begegnungszentrum oskar. trafen sich alle am Projekt Beteiligten – Mieter, Vertreter der ProPotsdam, Wissenschaftler – und unterhielten sich darüber, was wichtig für gemeinschaftliches Wohnen ist. Vor allem Räume sind entscheidend für eine Gemeinschaft.

Zahlreiche Drewitzer sind in der DDR groß geworden. Beim Thema gemeinschaftliches Wohnen erinnern sich viele Bewohner an die Gemeinschaftsräume, die es in den Wohnhäusern gab, und an Gemeinschaftsaktionen zur Gartenpflege. Das sei dann nach der Wende alles weggebrochen. Ich würde mir wünschen, dass es gemeinschaftliche Räume und gemeinsame Aktivitäten wieder gibt.

Konkret heißt das Projekt „Freude an Gemeinschaft“. Wie kam es dazu? Ist die ProPotsdam auf Sie zugekommen oder waren Sie der Initiator?

Wir sind auf die ProPotsdam zugegangen. Wir hatten die Idee, ein Forschungsprojekt zum gemeinschaftlichen Mehrgenerationenwohnen zu machen. Die erste Idee war es, zu schauen, wie das in klassischen, selbst organisierten Mehrgenerationsprojekten funktioniert. Ausgangspunkt ist eine Gruppe, die gemeinschaftlich bis ins hohe Alter wohnen möchte. Zusammen wird dann ein geeignetes Haus gesucht und als Gemeinschaftseigentum erworben.

Warum ist es nicht bei dieser Idee geblieben?

Das Problem ist, dass sich Mehrgenerationenwohnen nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten kann, im Hinblick auf die steigenden Immobilienpreise vielleicht bald gar keiner mehr. Daher wollten wir gemeinschaftliches Wohnen dort betrachten, wo Eigentum keine Rolle spielt. Beim kommunalen Wohnungsanbieter ProPotsdam sind wir mit dieser Idee auf großes Interesse gestoßen. Dass man den Mut hatte, das auszuprobieren, hat mich schon sehr beeindruckt.

Zusammen haben wir überlegt, in welchem Quartier, in welchen Gebäuden gemeinschaftliches Wohnen umgesetzt werden kann. Dabei sind wir auf die sogenannte „Rolle“ in Drewitz gekommen, deren Sanierung damals schon begonnen hatte. Der Gebäudekomplex musste während der Sanierung leergezogen werden. Hier war die Idee, bei der Findung und Auswahl von Bewohnern nicht nur Rückzieher, sprich die ursprünglichen Mieter der „Rolle“, sondern auch neue Mieter miteinzubeziehen. Ganz gleich ob Altdrewitzer, Potsdamer oder Zugezogener, wir wollten Menschen finden, die alle gemeinschaftlich wohnen, nicht allein in ihrer Wohnung sitzen, sondern sich engagieren wollen. Daher ist dies kein Angebot für alle Menschen.

Welche Erkenntnisse haben Sie bislang gewonnen?

Im Rahmen des Projektes lernten sowohl wir als auch die ProPotsdam dazu. Wir unter anderem, dass es viele äußere Zwänge gibt, zum Beispiel dass die Wohnungsgrundrisse auch noch in 20 Jahren vermietbar sein müssen. 

Andererseits haben wir der ProPotsdam vermitteln können, dass für eine Gemeinschaft Räume wichtig sind. Wenn es keinen Raum gibt, hat Gemeinschaft keinen Platz. Die ProPotsdam hat sich dann bereit erklärt, eine Wohnung im Erdgeschoss als Gemeinschaftswohnung einzurichten. Für diesen Raum haben die Mieter die Verantwortung. Hier kann man zusammenkommen und gemeinschaftlich etwas machen. Das ist ganz wichtig für Gruppenprozesse.

Dass wir aktuell in einer sehr individualisierten Gesellschaft leben, liegt meiner Meinung nach an den fehlenden Räumen für Gemeinschaft. Die Sozialwelt wird immer mehr ökonomisch und effizient durchgeplant.


Foto: Carolin Brüstel